19.01.2024

OLG Hamburg: Einstufung einer Dermatologie-App als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa

Das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg (OLG) entschied, dass auch asynchrone telemedizinische Dienste als Medizinprodukte der Risikoklasse IIa zertifiziert sein müssen, wenn sie zum Zweck der ärztlichen Diagnosestellung keine eigenen Daten erheben, sondern Patientendaten strukturiert übermitteln.

Die Parteien sind Anbieter von telemedizinischen Leistungen im Bereich der Dermatologie. Beide Parteien bieten jeweils eine Software an, mit deren Hilfe Patienten bestimmte Hautleiden ohne persönlichen Besuch in einer Arztpraxis durch Hautärzte untersuchen lassen können. Die Parteien vertreiben ihre Software jeweils ohne die Zertifizierung als Medizinprodukt der Klassen IIa, IIb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 der Medizinprodukteverordnung (= Medical Device Regulation, (MDR)). Die Klägerin bietet Patienten von Hautleiden über ihre Website einen sog. „digitalen Hautcheck“ an. Die Patienten erhalten auf diese Weise die Möglichkeit, Hautveränderungen durch einen von ihnen ausgewählten Hautarzt online und damit ohne persönlichen Besuch in der Arztpraxis untersuchen und diagnostizieren zu lassen. Die Klägerin nutzt hierzu eine Software, für welche sie im Jahr 2021 ein Konformitätsbewertungsverfahren nach den Regelungen der damals geltenden Richtlinie 93/42/EWG (Medical Device Directive, (MDD) durchführte. Demzufolge brachte sie die Software seit Februar 2021 nach den Regelungen der MDD als Medizinprodukt der Klasse I in den Verkehr. Mit Geltungsbeginn der MDR im Mai 2021, die den Anwendungsbereich der Verordnung erweitert, ergeben sich Änderungen bei der Risiko-Klassifizierung. Hersteller müssen ihre Produkte unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken in die Klassen I, IIa, IIb und III einstufen. Die Risikoklassen sind für die weiteren Schritte der CE-Kennzeichnung erforderlich, insbesondere für die Wahl des Konformitätsbewertungsverfahrens und für den Umfang der klinischen Bewertung. Für bereits nach den Regeln der MDD zertifizierte Produkte gelten Übergangsregelungen, auf die sich auch die Klägerin beruft. Die Beklagte bietet im Google Play Store sowie im Apple App Store eine Softwareapplikation zum Download auf das Mobiltelefon an. Die Software ist zudem über die Website der Beklagten zugänglich. Die Funktionsweise der Software ist der Funktionsweise der von der Klägerin vertriebenen Software vergleichbar. Die Patienten nehmen über die Software Kontakt zu von der Beklagten ausgewählten Hautärzten auf. Sie werden nach Konkretisierung des betreffenden Hautproblems (z.B. „Muttermal“ oder „Insektenstich“) aufgefordert, einen zu dem jeweiligen Hautproblem von Spezialisten der Universitätskliniken G. und W. entwickelten Anamnesebogen zu beantworten und mindestens drei aus unterschiedlichem Abstand und Blickwinkel gefertigte Fotos hochzuladen. Der Patient hat außerdem die Möglichkeit, über die abgefragten Informationen hinausgehende Angaben individuell einzugeben. Ferner besteht für den Arzt die Möglichkeit, bei weiterem Aufklärungsbedarf unmittelbar Kontakt zu dem betreffenden Patienten aufzunehmen und individuelle Rückfragen zu stellen oder zusätzliche Fotos von der betreffenden Hautstelle anzufordern. Die von den Patienten übermittelten Informationen und Fotos werden von einem Hautarzt geprüft. Dieser erstellt sodann auf dieser Grundlage eine Diagnose und formuliert ggf. einen Be- handlungsvorschlag und stellt ein Rezept aus. Dieses Ergebnis teilt der Arzt dem Patienten zudem in Form eines elektronischen Arztbriefes mit. Für Produkte, die bereits vor Inkrafttreten der MDR auf dem Markt waren, gelten Übergangsregelungen, unter die auch die Klägerin fällt. Für die Beklagte gelten diese nicht, argumentierte das Unternehmen. Die Struktur des Angebots mache deshalb eine Zertifizierung als Medizinprodukt der Klasse IIa notwendig, weswegen die Beklagte ihr Angebot vom Markt nehmen müsse. Ei- nen dahingehenden Antrag auf einstweilige Verfügung hatte das Landgericht Hamburg (LG) jedoch im vergangenen August zurückgewiesen. Nach Auffassung der Kammer für Handelssachen setze die Medizinprodukteverordnung nämlich voraus, dass die Software die für die ärztliche Entscheidung erforderlichen Informationen selbst hervorbringe. Eine Anwendung, die bspw. Blutdruck- oder andere Vitaldaten erhebt und einem Arzt übermittelt, würde demnach unter die Risikoklasse IIa fallen. Bei der Beklagten – wie auch bei der Klägerin – laden Patienten jedoch selbst geschossene Fotos von Hautläsionen hoch und füllen dann ein Formular aus. Beides wird an Dermatologen übermittelt, die auf dieser Grundlage Diagnosen stellen und ggf. Privatrezepte ausstellen. Gegen diese Entscheidung ging die Klägerin in Berufung und verwies dabei darauf, dass die Software aufgrund einer vorgegebenen Programmierung und auf Basis der vorausgegangenen Antworten entscheide, welche weiteren Fragen einem Patienten gestellt würden. Die App nehme damit Einfluss auf den Anamneseinhalt und die Diagnose einer Erkrankung, die der Patient im ersten Schritt selbst einordnen müsse. Dies geschehe also nicht auf Grundlage einer ärztlichen Einzelfallentscheidung – die Software greife somit in den Diagnoseprozess ein und beeinflusse ihn.

Das OLG bewertete die Berufung als begründet: Die App liefere den Ärzten das Ergebnis einer strukturierten Erhebung medizinischer Daten. Dem Urteil zufolge sei die App der Beklagten der Medizinprodukte-Verordnung nicht als Medizinprodukt der Klasse I zu qualifizieren. Wenn die Beklagte in diesem Zusammenhang einwendet, dass schließlich ein Expertenteam sich die Fragestellungen überlegt habe, sodass kein Unterschied zu dem Dermatologen vor Ort bestehe, sei dem entgegenzuhalten, dass eine Software immer ein von Menschen hergestelltes Programm ist, die dieses hoffentlich auf der Grundlage einer ausreichenden Expertise programmiert haben, sodass die Tatsache, dass ein ‚Expertenteam von Hautärzten‘ die Fragen entwickelt bzw. die Programmierung vorgegeben hat, kein taugliches Abgrenzungskri- terium sein könne. Außerdem spreche der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) kreierte Auslegungsgrundsatz „effet utile“ gegen die Interpretation des Wortes „liefern“ durch die Beklagte: Demnach kommt unionsrechtlichen Vorschriften bei Auslegungszweifeln stets die größtmögliche Wirkung zu. Ist nicht klar, ob „liefern“ nur die eigene Erhebung von Daten umfasst oder aber auch die reine Übermittlung, gelte demnach zweiteres.

Quelle: LG Hamburg, Urt. v. 19.01.2024, 416 HKO 64/23; OLG Hamburg – Urteil noch nicht veröffentlicht, Az.: 3 U 3/24